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Montag, 2. April 2018

Der Unterschied zwischen Ich und Selbst (aus psychodynamischer Sicht)

Das Ich und die Ich-Funktionen in Unterscheidung vom Selbst


Die Begriffe „Selbst“ und „Ich“ werden oft synonym verwendet. Sogar in der neueren psychodynamischen Literatur werden sie nicht immer klar voneinander abgegrenzt. Ich werde versuchen darzulegen, warum sich aus meiner Sicht die saubere Unterscheidung der beiden Konstrukte lohnt. Nach meiner Erfahrung können wir nämlich eine ganze Reihe seelischer Krankheitsbilder und die ihnen psychogenetisch zugrunde liegenden biografischen Erfahrungen und Persönlichkeitsbesonderheiten der betroffenen Patienten besser verstehen, wenn wir die Begriffe „Selbst“ und „Ich“ präzise definieren und trennscharf verwenden. So haben viele Patienten im Laufe ihrer Persönlichkeitsentwicklung erhebliche Beschädigungen und Hemmungen ihres Selbst erlitten. Aber einem Teil dieser Patienten gelingt es trotzdem erstaunlich gut, die Anforderungen des sozialen und beruflichen Lebens zu meistern und das narzisstische Gleichgewicht über lange Zeit aufrechtzuerhalten. Ihre beachtliche Lebensbewältigung ist aus psychodynamischer Sicht der relativ hohen Qualität einer Reihe von Ich-Funktionen zuzuschreiben, welche die Patienten trotz oder gerade wegen ihrer Selbstdefizite erworben haben.

Jeder Mensch bewältigt sein Leben und seine Selbstregulierung in seiner ganz eigenen Weise. Das heißt, jeder entwickelt im Laufe seines Lebens seinen von anderen Menschen unterscheidbaren Persönlichkeitsstil . Doch bei aller Individualität und Einzigartigkeit lassen sich deutliche Parallelen und Gemeinsamkeiten in den Persönlichkeitsstilen erkennen, die seit der Antike zu Versuchen der Typologisierung Anlass gaben.  Gemeinsam mit Arno Remmers habe ich für eine praxisnahe psychodynamische Diagnostik vorgeschlagen, die große Variationsbreite der Persönlichkeitsstile in zehn „Neurosendispositionen“ (altruistisch-depressiv, abhängig, pseudounabhängig, ängstlich, zwanghaft, histrionisch, emotional instabil, paranoid, narzisstisch und passiv aggressiv) einzuteilen.  Die verschiedenen Neurosendispositionen zeichnen sich durch charakteristische, nicht bewusste Anpassungs-, Kompensations- und Abwehrmechanismen des Ich aus, mit denen das Ich die biografisch entstandenen Beschädigungen und Hemmungen des Selbst auszugleichen versucht. Diese nicht bewussten Reparaturmechanismen des Ich können unter bestimmten aktuellen Anforderungen, Belastungen und Konfliktsituationen dysfunktional und kontraproduktiv werden und vermögen dann nicht mehr, die Kohärenz und Stabilität des Selbst zu gewährleisten. Es kommt dann zur neurotischen Symptombildung. Bestimmte Persönlichkeitsstile disponieren folglich zu neurotischen Erkrankungen, daher nannten wir sie „Neurosendispositionen“.

Das Selbst

Wenn ich als psychodynamisch fundierter Therapeut von „dem Selbst“ eines Menschen spreche, dann meine ich damit die innere Repräsentanz, das Modell oder das Bild, das dieser Mensch von sich selbst hat (analog zum inneren Bild, das ein Mensch von einem anderen vertrauten Menschen hat). Das Selbst ist folglich eine Form von Information. Das Selbstbild ist allerdings kein rein kognitives Konzept, das jemand von sich selbst hat, sondern es ist immer auch etwas Körperliches und unmittelbar Gefühltes. Nach psychodynamischem Verständnis ist das Selbst mit Antrieben und Impulsen sowie lustvollen oder unlustvollen Affekten verbunden. Das „gesunde“ Selbst ist – wie es psychoanalytisch heißt – ausreichend libidinös besetzt. Das heißt, gesundes Selbsterleben geht mit überwiegend positiven Empfindungen sowie mit einem angemessenen Gefühl für den eigenen Wert und die eigene Wirksamkeit einher. Phänomenal zeichnet sich ein gesundes Selbst durch das vertraute subjektive (phänomenale) Erleben eines Menschen aus, eine Ganzheit, ein autonomes, beständiges und kohärentes Zentrum von Vitalität, der Mittelpunkt des unmittelbaren Empfangens von Eindrücken sowie der Initiator und Verursacher von Veränderungen in der Umwelt zu sein.

Das Selbst lässt sich definieren als Kern der Persönlichkeit, als die sich ihrer selbst bewusste und sich selbst reflektierende psychische Instanz für die inneren Vorgänge. Der Arbeitskreis OPD definierte das Selbst als "reflexive psychische Struktur: Das Ich nimmt sich selbst zum Objekt der Wahrnehmung und wird dadurch zum Selbst (Selbstbild). Das Selbst bewertet sich und fühlt sich von anderen bewertet (Selbstwert). Das Selbst erlebt sich als konstant und kohärent (Identität). Das Selbst integriert alle psychischen Funktionen und Dispositionen zu einem Ganzen, es steuert sich selbst und organisiert die Beziehung zum Anderen." Am Ende der Selbstentwicklung stehe "ein autonomes Selbst, das ein Gefühl von Identität ausgebildet hat und das sein Selbstbild und seinen Selbstwert sowie seine Steuerungs- und Handlungsfähigkeit immer wieder regulieren kann".

Die Entwicklung des Selbst

Nach Margaret Mahler entwickelt sich ein stabiles Gefühl eigener Einheitlichkeit und von Selbstgrenzen erst im dritten Lebensjahr.  Nach der Geburt müssen – durch den dauernden sinnlichen Kontakt mit der Welt – die im Gehirn des Neugeborenen im Überfluss vorhandenen Nervenverbindungen erst noch tief greifend umgebaut werden, bevor das Kind zwischen Selbst und Objekt unterscheiden lernt. Nach Kohut legen die Befunde der Neurophysiologie die Annahme nahe, "dass das neugeborene Kind keinerlei reflektives Bewusstsein seiner selbst haben kann, dass es nicht fähig ist, sich selbst, und sei es noch so schemenhaft, als eine im Raum kohärente und in der Zeit dauernde Einheit zu erfahren, die Ausgangspunkt von Antrieben und Empfänger von Eindrücken ist. Und doch ist es von Anfang an mittels gegenseitiger Empathie mit einer Umgebung verschmolzen, die es so erlebt, als hätte es bereits ein Selbst – einer Umgebung, die nicht nur die spätere Selbstbewusstheit des Kindes vorwegnimmt, sondern auch, allein schon durch Form und Inhalt ihrer Erwartungen, es in spezifische Richtungen zu lenken beginnt."

Die anfängliche unreife Ungetrenntheit von Objekt und Selbst scheint einem kindlichen Bedürfnis zu entsprechen, das für diese frühe Entwicklungsphase typisch und für die Selbstentwicklung konstituierend ist: dem Bedürfnis nach Symbiose und Verschmelzung. Mutter und Kind durchlaufen i. d. R. gemeinsam eine für beide beglückende Phase inniger körperlich-sinnlicher Verbundenheit und gegenseitiger dyadischer Bezogenheit, wenn sie nicht durch widrige äußere Umstände oder eine Erkrankung der Mutter daran gehindert werden. Sie erleben sich gemeinsam als fusionäre Einheit. Der Säugling kann in den ersten Monaten seines Lebens noch nicht erkennen, dass die Sättigung, Lust, Spiegelung und Sicherheit spendende Mutter und die versagende Mutter ein und dieselbe Person sind und dass diese sowohl befriedigende als auch frustrierende Mutter eine von ihm getrennte, eigene Existenz hat.

Die Selbstentwicklung nimmt von den Sinnes- und Körperempfindungen des Säuglings in der innigen, spiegelnden Interaktion mit dem Körper der Mutter oder dem anderer Pflegepersonen ihren Ausgang. Der Säugling hat ein großes Bedürfnis nach Körperkontakt, Interaktion, sinnlicher Stimulation, Empathie, Spiegelung und Resonanz durch seine Mutter. Befriedigt eine gesunde und unbelastete Mutter mit der wünschenswerten Geduld und Zuwendung diese Bedürfnisse zuverlässig, dann organisiert sich der Objektbeziehungstheorie zufolge die Fülle der lustvollen körperlich-sinnlichen Einzelerfahrungen des Säuglings zu einer einheitlichen neuronalen Repräsentation, einer Art innerem Bild des "guten mütterlichen Objekts". Diese Repräsentation ist mit positiven Affekten wie Sattheit, Lust und Wohlbefinden verbunden.

Wenn die Eltern oder andere Pflegepersonen nicht in der Lage sind, die Bedürfnisse des Säuglings, z. B. nach Körperkontakt und Spiegelung, angemessen zu befriedigen, dann reagiert der kindliche Organismus mit Stresssymptomen. Eine anhaltend ungestillte Bedürfnisspannung geht mit negativen Affekten einher. In extremen Fällen, wie bei den von Rene Spitz beschriebenen Waisenhauskindern, können sich sogar schwere depressive Symptome entwickeln. Analog zu den befriedigenden Erfahrungen organisieren sich auch die unlustvollen, versagenden, schmerzlichen oder gar beängstigenden Erfahrungen des Säuglings mit der Mutter zu einer einheitlichen neuronalen Repräsentation, dem inneren Bild des "bösen mütterlichen Objekts". Man spricht auch von positiven und negativen "inneren Objekten" oder "positiven und negativen Objektrepräsentanzen". Eine Objektrepräsentanz setzt sich – wie Rainer Krause sagt – aus "Erinnerungsspuren" zusammen, die das Objekt, die Interaktion des Kindes mit dem Objekt und die Gefühle während dieser Interaktion beinhalten.

Wenn ein Kind seine Beziehungserfahrungen verinnerlicht, sind Kernberg zufolge "immer mindestens drei Komponenten beteiligt: eine Selbstvorstellung, eine Objektvorstellung und ein Affektzustand".  Nach Kernberg konstituieren sich aus den zahllosen befriedigenden Interaktionserfahrungen, die der Säugling mit seiner Mutter macht, positive "Selbst-Objekt-Affekt-Einheiten". Letztere versteht Kernberg als die Determinanten der intrapsychischen Selbstbildung und der Ausformung der individuellen Persönlichkeitsstruktur. Denn aus den Objektrepräsentanzen gehen – so Kernberg in Anlehnung an Edith Jacobson – die Selbstrepräsentanzen hervor. Das heißt: So wie ein Kind die Interaktion mit dem primären Objekt erlebt, erlebt es sich selbst. Harry Sullivan verstand das Selbst als die Summe aller verinnerlichten Zustimmungen, die ein Mensch durch seine Umwelt erhielt.  Wenn ein Kind von seinen Eltern von Anfang an in dieser Welt willkommen geheißen, um seiner selbst willen geliebt, geschätzt und in seinen Bedürfnissen und spontanen Lebensäußerungen geachtet wird, hat es gute Chancen, zu sich selbst eine ähnlich gute Beziehung aufzubauen: Es wird sich selbst lieben, schätzen und auf seine Bedürfnisse achten. Es wird Vertrauen in andere Menschen und in sich selbst haben.

Aber warum oder wozu entsteht überhaupt in Menschenkindern – über das rudimentäre Körper-Selbst, das vermutlich auch Tiere haben, hinaus – ein so ausgefeiltes inneres Modell oder Bild von sich selbst? Kohut meinte: "In dem Augenblick, in dem die Mutter ihr Baby zum ersten Mal sieht und auch mit ihm im Kontakt ist (durch taktile, olfaktorische und propriozeptive Kanäle, wenn sie füttert, trägt, badet), findet der eigentliche Beginn eines Prozesses statt, der das Selbst einer Person bildet (…)." Die Mutter und auch die übrige soziale Umwelt nehmen die spätere Selbstbewusstheit des Kindes vorweg.  Der Säugling wird von Anfang an wie eine kleine Persönlichkeit mit einem bereits vorhandenen Ich- beziehungsweise Selbstbewusstsein angesprochen. Während des spiegelnden Wechselspiels zwischen der Umwelt und dem Kind wird ständig dessen angeborene (mimetische) Fähigkeit trainiert, die nonverbalen und verbalen Kommunikationsformen der jeweiligen Kultur nachzuahmen. Das Kind wird laufend bei seinem Namen genannt und intensiv mit den Phonemen der Sprache vertraut gemacht. V. a. die Mutter schenkt allen körperlichen Zeichen und Lautäußerungen, welche das innere Befinden des Kindes widerspiegeln könnten, größte Beachtung und fasst sie in Worte. Mit diesem intensiven soziokulturellen Training lenkt sie die Aufmerksamkeit und die erwachenden Symbolfunktionen des Kindes so lange auf seine eigenen Bedürfnisse, Empfindungen und Befindlichkeiten, bis sich das Kind schließlich mit ihnen zu identifizieren beginnt. Von den Objektrepräsentanzen lösen sich zunehmend eigenständige Selbstrepräsentanzen ab.



Wird noch eingefügt: Abbildung: Erste Herausbildung von Objektrepräsentanzen und Selbstrepräsentanzen 


Alle schmerzvollen Erfahrungen mit der Mutter, die mit negativen Selbst-Objekt-Affekt-Einheiten einhergehen, sind anfangs noch "abgespalten". Dabei ist die Spaltung zunächst kein aktiver Vorgang, sondern ein rein physiologisches Entwicklungsstadium. Die Spaltung beruht einfach darauf, dass lustvolle und unlustvolle Erfahrungen im Gehirn des Säuglings an unterschiedlicher Stelle kartiert werden und noch nicht assoziativ miteinander verknüpft sind. Darüber hinaus erfüllt die Spaltung eine Schutzfunktion. Sie hält den für die Selbstentwicklung notwendigen inneren Raum, in dem selbst ein emotional vernachlässigtes Kind mit einem Minimum an gutem innerem Bild der Mutter verschmelzen kann, frei von Kontaminationen. So können auch bedrohliche Erfahrungen mit der realen Mutter einschließlich der entsprechenden negativen Objektrepräsentanzen und negativen Affekte des Kindes die Illusion einer guten Mutter, die als Selbstobjekt unverzichtbar ist, nicht gänzlich zerstören. Die folgende Abbildung zeigt im oberen Teil, wie die realen guten Erfahrung mit dem primären Objekt sowie die daraus resultierenden guten Objekt- und Selbstrepräsentanzen kognitiv noch nicht klar voneinander unterschieden sind. Alles Negative (im unteren Teil) ist von allem Gutem (oben) noch klar getrennt (abgespalten). 


Wird noch eingefügt: Abbildung: Selbstentwicklung in der ersten Hälfte der ersten Lebensjahres: Die Selbst-Objekt-Differenzierung ist noch nicht vollzogen (symbolisiert durch die gestrichelte senkrechte Linie). Es besteht noch eine Symbiose/Fusion von Selbst und Objekt. Zugleich besteht noch eine Spaltung von "Gut" und "Böse" (symbolisiert durch die waagrechte schwarze Linie, die sowohl das primäre Objekt als auch das Selbst in jeweils zwei getrennte Aspekte, die guten und die bösen, aufteilt).


Wenn die frühen Bindungserfahrungen unsicher oder bedrohlich sind und die Spiegelung der Bedürfnisse und Lebensäußerungen des Säuglings durch die Mutter entsprechend unzureichend ist, muss die Spaltung als Schutzmechanismus oft dauerhaft aufrechterhalten werden. Die Spaltung wird dann zu einem aktiven Abwehrmechanismus. Wenn hingegen die psychosozialen Entwicklungsbedingungen günstig sind, kann das Kind ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres – mit fortschreitender biologischer Reifung seines Gehirns und der Verbesserung seiner kognitiven Fähigkeiten – damit beginnen, zwischen Selbst und Objekt zu unterscheiden. Die von Rene Spitz beobachtete und beschriebene "Acht-Monats-Angst", die auftritt, wenn sich ein Fremder dem Kind nähert, belegt, dass das Kind seine Mutter von anderen Menschen unterscheiden kann.  Parallel dazu fängt das Kind an zu erkennen, dass die "gute" Mutter und die "böse" Mutter eine einzige Person sind. Um den 18. Lebensmonat herum soll das Kind dann Objekte als Ganzes (also sowohl in ihren befriedigenden als auch in ihren frustrierenden Qualitäten) wahrnehmen können. Dadurch verbessert sich seine Realitätsprüfung erheblich. Diesen Entwicklungsstand soll die folgende Abbildung verdeutlichen.



Wird noch eingefügt: Abbildung: Die Selbst-Objekt-Differenzierung vollzieht sich ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres und gilt ab der Mitte des zweiten Lebensjahres als abgeschlossen (symbolisiert durch die senkrechte schwarze Linie), die Spaltung zwischen "Gut" und "Böse" ist aufgehoben.


Unter ungünstigen Umständen vollzieht ein Kind den wichtigen Reifungsschritt der Differenzierung von Selbst und Objekt möglicherweise nur unvollständig. Es bleibt mit den "guten" Aspekten der Mutter oder einer anderen Pflegeperson, die kompensatorisch als Selbstobjekt dient, weiterhin fusionär verbunden. Es spaltet dabei fortgesetzt die für sein Selbst bedrohlichen Aspekte der Mutter oder der Ersatzperson sowie seine eigenen negativen Affekte ab. Die Beziehungen zu anderen Menschen und die Selbstregulierung sind für ein solches Kind nur um den hohen Preis möglich, mit wesentlichen Teilen seiner sozialen Wirklichkeit und des eigenen Selbst nicht in Kontakt zu sein. Wenn die Mutter ihre Selbstobjektfunktion nur unzureichend erfüllen kann, z. B. infolge von Krankheit oder Überforderung, kommt insbesondere dem Vater eine wichtige Rolle als kompensatorisches Selbstobjekt zu. Oftmals ist aber auch der Vater nur unzureichend verfügbar, z. B. weil er beruflich sehr beansprucht oder oft abwesend ist.

In den ersten Lebensjahren kann noch nicht zwischen der Fantasietätigkeit eines Kindes und seiner Realitätswahrnehmung unterschieden werden. Kleine Kinder können daher reale Versagungserfahrungen teilweise durch eine befriedigendere fantasierte Realität kompensieren. So kommen Väter – selbst wenn sie oft abwesend und damit als Selbst- und sicheres Bindungsobjekt nicht ideal sind – in den Genuss einer im Grunde genommen unverdienten Idealisierung. Diese Idealisierung wird begünstigt, wenn sich der Vater in der wenigen Zeit, die er für das Kind aufbringt, tatsächlich gemäß den Erwartungen des Kindes verhält. Der idealisierte Vater erfüllt innerpsychisch zwar eine wichtige kompensatorische Selbstobjektfunktion für das Selbsterleben und die Selbstregulierung des Kindes, aber – wie gesagt – nur um den Preis einer eingeschränkten Wahrnehmung der wirklichen Eigenschaften des Vaters.

Als Erwachsene zeigen Menschen mit einem solchen Schicksal ihrer Selbstentwicklung häufig die Tendenz, alles Trennende auszublenden, z. B. bestimmte nachteilige Eigenschaften des geliebten anderen zu verleugnen, um die ersehnte fusionäre Verbundenheit mit dem als Selbstobjekt benötigten anderen nicht zu gefährden. Auch negative Antriebe und Affekte, welche aus der Frustration wichtiger Bedürfnisse resultieren, aber die Beziehung zum Selbstobjekt belasten könnten, z. B. Aggression, Wut und Hass, werden abgespalten und neigen dazu, sich gegen das eigene Selbst zu wenden. Wenn irgendwann die Realität nicht mehr verleugnet werden kann und z. B. deutlich wird, dass der idealisierte andere ganz anders ist als die eigenen Erwartungen, kann die Idealisierung in eine schlimme Enttäuschung und in eine massive Entwertung des ursprünglich geliebten Menschen umschlagen. Dieser Verlust des idealisierten Selbstobjekts erschüttert aber die Kohärenz des eigenen Selbst, das so sehr von der äußerlichen Verfügbarkeit des Selbstobjekts abhängt.

Eine wichtige Qualität des Selbst ist folglich seine Autonomie. Die Autonomie des Selbst kann sich am besten entwickeln, wenn die symbiotischen Bedürfnisse des Kindes ausreichend gestillt werden. Es ist wichtig, dass das Kind genügend stabile positive innere Bilder (Objektrepräsentanzen) von der Mutter und anderen Beziehungspersonen entwerfen kann. Stabile innere Bilder von Menschen, die das Kind um seiner selbst willen lieben oder liebten, die sicher verfügbar sind oder waren, die ermutigen, trösten und beistehen, machen das Selbsterleben des Kindes von der ständigen äußerlichen und physischen Verfügbarkeit von Menschen mit Selbstobjektfunktion unabhängiger. Gute und stabile innere Objekte erlauben es dem Kind und späteren Erwachsenen, sich selbst auch unter Belastung zu lieben, sich selbst zu ermutigen und zu trösten. Wichtig ist auch, dass die Mutter selbstsicher genug ist, um ihrem Kind in den ersten Lebensjahren vermitteln zu können, dass es sich selbstständig bewegen und entfalten kann, ohne deshalb ihren Schutz und ihre Zuneigung zu verlieren. Dadurch wird das Kind befähigt, später selbst innerhalb von engen Bindungen ein angemessenes Maß an Unabhängigkeit zu bewahren und anderen zuzugestehen. Kohut hob insgesamt vier Merkmale eines gesunden, also durch ausreichende Selbstobjekterfahrungen gestärkten Selbst hervor:

Autonomie.

Selbstwerterleben: Es besteht ein stabiles Grundgefühl vom eigenen Wert, eine von Grund auf positive Beziehung zu sich selbst. Das eigene Selbst ist ausreichend libidinös besetzt. Dazu gehört auch ein Bild der eigenen Fähigkeiten, Aktivitäten, Initiativen und Kreativität. Das Selbst verfügt über ausreichende Mechanismen des Ich, um das Selbstwertgefühl (die narzisstische Homöostase) zu regulieren. Das Selbstwertgefühl kann selbst angesichts eigener Defizite, Grenzen und Erfahrungen des Scheiterns aufrechterhalten werden. Eine strukturelle Störung des Selbst zeigt sich hingegen in massiver Kränkbarkeit, Selbstzweifeln und der Tendenz, sich selbst abzuwerten oder zu hassen. Der Extremfall ist der depressive Nichtigkeitswahn. Auch starke Schwankungen im Selbstwerterleben sind häufig: Phasen des Selbstzweifels und Selbsthasses wechseln mit Phasen der Selbstüberhöhung mit Größenideen bis hin zum Größenwahn ab.

Kohärenz: Hiermit ist das Gefühl von Beständigkeit, Festigkeit, Einheit und klarer Identität der eigenen Persönlichkeit gemeint. Die Kohärenz schließt auch ein klares Bild des eigenen Körpers ein, unter anderem ein Wissen darum, wie sich "meine Gefühle" anfühlen. Es besteht ein konsistentes Gefühl für "meine Geschichte", das ich in bestimmter Weise und unter bestimmten familiären Bedingungen zu dem geworden bin, der ich bin, dass ich mich mit der Zeit verändert habe, was ich aus mir gemacht habe, welche Geschichte ich mit anderen habe, welche Vorstellungen und Ansprüche ich an meine Zukunft habe. Eine strukturelle Störung der Kohärenz des Selbst zeigt sich in der Neigung zur sog. Fragmentierung: Das Selbst hört auf, als Ganzes und als eigenständiges Zentrum der Initiative zu existieren. Der eigene Körper oder Teile des Körpers werden als fremd, als nicht "zu mir" gehörend empfunden. Das Gefühl für die eigene Identität und die Urheberschaft des eigenen Handelns kann in dissoziativer Weise reduziert oder aufgehoben sein.

Vitalität: Ein gesundes Selbst ist ein lebendiges und kraftvolles Zentrum von Initiative. Bei einer strukturellen Störung des Selbst ist der Lebensantrieb geschwächt, den Betroffenen fehlt es dauerhaft an Energie und Schwung.

Ein gut genährtes, vitales, kohärentes und autonomes Selbst wird früher oder später in der Lage sein, Objekte nicht nur in ihrer narzisstischen Selbstobjektfunktion zu nutzen, sondern sie – mit Hilfe der realitätsprüfenden Funktion des Ich – nach und nach so wahrzunehmen, wie sie wirklich sind, mit ihren eigenen Bedürfnissen, Schwächen, Fehlern und einzigartigen Qualitäten, und sie nicht zuletzt dafür zu lieben. Dennoch ist nach Kohut das Selbst sein gesamtes Leben lang auf ausreichende stärkende Selbstobjekterfahrungen angewiesen. Das Selbst ist auch – vor allem in seiner frühen Entwicklung – anfällig für Beschädigungen, die sich komplizierend in späteren Entwicklungsphasen, z. B. in der ödipalen Phase, der Adoleszenz, der Ablösung von den Eltern, der Lebensmitte, dem beginnenden Alter auswirken können. Glücklicherweise verfügt der "seelische Apparat" über Leistungen des Ich, die auch ein beschädigtes Selbst vor dem Schicksal der Fragmentierung bewahren können.

Das narrative Selbst

Daniel Stern zufolge entfaltet sich mit drei bis vier Jahren die Fähigkeit, interpersonale Beziehungserfahrungen durch das Erzählen von Narrativen psychologisch zu verarbeiten. Die "Welt der Geschichten", die wir über unser Leben erzählen, mache unser "narratives Selbst" aus. Indem "das Kind autobiografische Geschichten erzählt, (…) erschafft es seine Identität".  Geschichten liefern – wie Gerhard Roth sagt – Pseudoerklärungen, die dem Selbstwertgefühl und zugleich den Erwartungen der sozialen Umgebung am besten entsprechen. Auch als Erwachsene erfinden wir nach Roth ständig Geschichten, weil wir "all unser Fühlen, Denken und Handeln vor uns selbst und insbesondere auch vor den anderen sprachlich-logisch rechtfertigen müssen". Wir würden in aller Regel an diese Geschichten glauben und versuchen, auch "unsere Mitmenschen von ihnen zu überzeugen".  Wenn "die erlebte und die erzählte Vergangenheit sehr diskrepant sind", kann nach Stern "das Erfinden von Geschichten zu fortgesetzten Verzerrungen der Realität führen – Verzerrungen, die signifikant zu mentalen Störungen beitragen".  Verena Kast sieht das Erzählen der eigenen Geschichte positiver: "Je emotionaler eine Situation ist, um so öfter muss von dieser Situation (…) immer wieder erzählt werden, etwa von traumatischen Lebensereignissen (…)." Letztlich ginge es "darum, dass die Lebensgeschichte als Ganze so erzählt werden kann, dass sie akzeptabel ist. Sie wird also umerzählt, bis man sie akzeptieren kann."

Das Ich

Das Ich ist historisch gesehen jene innerpsychische Instanz, die einst Sigmund Freud in seinem berühmten Strukturmodell als Vermittler im Konflikt zwischen dem von ihm postulierten „Es“ (den biologischen Triebkräften, die im Menschen wirken) und dem „Über-Ich“ (verinnerlichten soziokulturellen Geboten und Verboten) angenommen hat.  Es ist das Verdienst von Heinz Hartmann, das Ich nicht nur als Austragungsort von neurotischen Konflikten angesehen zu haben. Vielmehr leistet das Ich im Verständnis Hartmanns generell die für die seelische Gesundheit unverzichtbare Anpassung an jene Umweltbedingungen, in die ein Kind schicksalhaft hineingeboren wird. Das Ich ist also als die Summe der seelischen Funktionen zu verstehen, die eine möglichst gute Adaptation des Individuums an seine soziale Umgebung gewährleisten. Nach Gerd Rudolf ist das Ich eine teils angeborene, teils erworbene Struktur mit der Fähigkeit, intentional mit der sozialen Umwelt zu interagieren und zu kommunizieren, die Realität wahrzunehmen und sie in einem seelischen Binnenraum abzubilden.  Der Kampf zwischen den Triebansprüchen und der Außenwelt findet in diesem innerseelischen Raum statt.
Konflikte und geeignete Konfliktlösungen können dort antizipiert und günstige Formen der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Triebregungen gefunden werden. Gefahren werden innen bewältigt, bevor sie äußere werden.

Dazu ist es erforderlich, dass das Ich konfliktträchtige Trieb- und Bedürfnisregungen aufschieben oder auf ungefährlichere und sozial anerkannte Bereiche verlagern kann. Kann das konflikthafte Verlangen wegen seiner Dringlichkeit nicht aufgeschoben oder verschoben werden, dann entsteht Angst, zum Beispiel vor der Wiederholung eines alten Traumas, einer Strafe, einer Kränkung, eines Mangels oder eines Verlustes. Nehmen die Angst und Erregung, die mit einem Bedürfnis oder Triebanspruch verbunden sind, ein Maß an, welche die Kohärenz des Selbst und die Funktionsfähigkeit des Ichs gefährden würde, verdrängt das Ich diese Bedürfnis- oder Triebregung einschließlich der mit ihr verbundenen Angst ins sogenannte Unbewusste. Das ist ein Kerngedanke der psychoanalytischen Theorie. Das Ich fungiert also auch als Reiz- und Inkonsistenzschutz sowie als Stabilisator für das Selbst. Es errichtet Schwellen gegen die Überflutung mit Triebimpulsen und Angst von innen sowie gegen verführerische, irritierende oder bedrohlichen Reize von außen. Für diese Schutzfunktion bedient es sich der von Anna Freud beschriebenen Abwehrmechanismen.  Anna Freuds Lehre von den Abwehrmechanismen des Ich stellt bis heute eine wichtige Säule des psychodynamischen Denkens dar. Am bekanntesten ist der Mechanismus der „Verdrängung“, des scheinbaren Vergessens ehemals bewusster konflikthafter, angst-, schuld- und schambesetzter Wünsche, Impulse und Affekte. Gegen das Wiederbewusstwerden dieser Inhalte – zum Beispiel in der Therapie – wehrt sich das Ich, weil es fürchtet, erneut mit Angst, Schuld, Scham, Kränkung und/oder Inkonsistenzspannung konfrontiert zu werden. In der psychoanalytischen Literatur spricht man auch von „Widerstand“.

Die Abwehr dient der Bewältigung nicht bewusster innerer Konflikte und ist nur eine von vielen Aufgaben des Ich. Die hauptsächliche Funktion dessen, was in der psychodynamischen Theorie als „Ich“ bezeichnet wird, besteht darin, die Anforderungen des Alltags zu bewältigen. Was das Ich überwiegend leistet, setzt sich aus einer Fülle von Routinen zusammen, die jeder von uns jeden Tag – ohne darüber bewusst nachdenken zu müssen – auf die durchschnittlichen Situationen in seinem Tagesablauf anwendet. Die alltäglichen Routineleistungen des Ich betreffen unter anderem die Wahrnehmung und das Beziehungsverhalten sowie die nonverbale und verbale Kommunikation. Besondere Beanspruchungen, zum Beispiel neuartige Lebenslagen und ungewohnte Begegnungen mit fremden Menschen oder auch konflikthafte Situationen, stellen erhöhte Anforderungen an das Ich. Das Ich ist dann beispielsweise gefordert, Zusammenhänge zu erkennen und Realität zu prüfen sowie empathisch die Reaktion anderer auf das eigene Verhalten vorauszusehen. Impulse und Affekte müssen unter Kontrolle gehalten und das Selbstwertgefühl muss reguliert werden. Das Ich muss Zwecke und Ziele erkennen, Urteile fällen und autonom verantwortliche Entscheidungen treffen können. Es zwingt uns sogar zu Tätigkeiten, zu denen wir keine Lust haben.

Die adaptative Qualität unserer Ich-Funktionen hängt folglich davon ab, wie gut wir mit bestimmten Fähigkeiten ausgestattet sind. Diese Fähigkeiten, die wir im Laufe unserer Enkulturation und Sozialisation erworben haben und idealerweise immer weiter erwerben, beziehen sich vor allem auf die Selbststeuerung und die Interaktion. Wie gut und vollständig sich jeder von uns diese Fähigkeiten aneignen konnte, hing hauptsächlich von dem sozialen Umfeld ab, in dem wir aufwuchsen. Wenn unsere Eltern selbst über eine hohe Qualität von Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten verfügten und als Vorbilder meist für uns präsent waren, hatten wir gute Chancen, diese Fähigkeiten durch Mimesis/Nachahmung vollständig zu entwickeln. Hatten unsere Eltern in Bezug auf diese Fähigkeiten erhebliche Defizite oder standen sie uns nur unzureichend als Modell zur Verfügung, dann waren die Bedingungen für unser Imitationslernen entsprechend eingeschränkt.
In der Psychotherapie wird zur Einschätzung der Qualität der ich Funktionen das sogenannte „Strukturniveau“  bestimmt. Das Strukturniveau ist ein Maß für die Qualität der verschiedenen Ich-Funktionen beziehungsweise Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten eines Menschen. Die Anforderungen des therapeutischen Gesprächs gelten als brauchbare Testbedingung, um einschätzen zu können, inwieweit das soziale Interaktionsverhalten und die Selbststeuerung eines Patienten situationsgerecht und funktional sind. Schilderungen des Patienten von aktuellen und vergangenen Alltagsepisoden geben weitere Hinweise auf seine individuell ausgeprägten strukturellen Fähigkeiten. Das Strukturniveau umfasst die folgenden vier Hauptdimensionen:





Man könnte statt von „Strukturniveau“ auch vom „Profil der Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten“, kurz von einem „Ich-Fähigkeiten-Profil“ oder „Ich-Profil“ eines Patienten sprechen. Die folgende Liste von 22 Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten, unterteilt in die vier Gruppen „Wahrnehmung“, „Steuerung/Kontrolle“, „Kommunikation“ und „Bindung“, erscheint mir persönlich als psychodiagnostisches Instrument unverzichtbar.

Beschreibung der einzelnen Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten (Ich-Funktionen)


A. Selbststeuerung

1 Nach innen schauen, eigene Bedürfnisse und Gefühle wahrnehmen
Fähigkeit und Interesse, seine Aufmerksamkeit nach innen zu richten, seine eigenen Bedürfnisse, Gefühle (positive wie negative), Gedanken und Fantasien wahrzunehmen, zu spüren, was der eigene Körper braucht (zum Beispiel Schonung, Ruhe, Bewegung oder Zärtlichkeit) und was ihm schadet (zum Beispiel Stress, Fehlernährung, Konsum von Suchtmitteln)
2 Für sich selbst sorgen
Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen und sich selbst zu schützen, so wie man auch für einen anderen, zum Beispiel ein Kind, das man liebt, sorgen würde und das man schützen würde
3 Selbstkontrolle
Einsicht und Fähigkeit, wichtige Dinge auch dann zu tun, wenn man keine Lust hat, und sich zu kontrollieren, wenn man zum Beispiel ein starkes Verlangen nach Alkohol, Zigaretten, Drogen, Sex, Spielen, Einkaufen und so weiter hat oder wenn man am liebsten vor Wut etwas beschädigen oder einen anderen oder sich selbst verletzen würde
4 Klares Bild von sich selbst
Ein klares Bild von sich selbst, der eigenen Identität, den eigenen Zielen, Aufgaben und Rollen im Leben besitzen
5 Abschirmung gegen eigene negative Emotionen
Fähigkeit, bei Bedarf einen inneren Schutzwall gegen negative Emotionen (zum Beispiel Angst, Wut, Verzweiflung, Scham, Traurigkeit, Wertlosigkeit) zu errichten und seine Aufmerksamkeit auf Dinge zu konzentrieren, die mit positiven Emotionen verbunden sind und geeignet sind, das innere Gleichgewicht wieder herzustellen.
6 Sich selbst annehmen und wertschätzen
Fähigkeit, sich selbst, so wie man ist, grundsätzlich zu akzeptieren und zu mögen, auch dann, wenn man Fehler gemacht oder Rückschläge erlitten hat

B. Realistische Wahrnehmung anderer

7 Bedürfnisse und Gefühle anderer wahrnehmen
Fähigkeit und Interesse, die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen, sich in andere Menschen einzufühlen und die Reaktionen anderer Menschen vorauszusehen
8 Andere ganzheitlich wahrnehmen
Fähigkeit zu erkennen, dass andere Menschen in der Regel sowohl gute, zu den eigenen Bedürfnissen und Erwartungen passende Seiten als auch schlechte, den eigenen Bedürfnissen und Erwartungen entgegenstehende Seiten haben (dass man nicht einseitig nur die eine oder andere Seite sieht)
9 Zwischen Eigenem und Fremdem unterscheiden
Fähigkeit zu erkennen und zu akzeptieren, dass andere Menschen Wünsche, Gefühle und Meinungen haben, die sich von den eigenen unterscheiden

C. Bindungen

10 Beziehungen eingehen
Fähigkeit, die emotionale Wichtigkeit anderer Menschen zu empfinden, mit positiven Erwartungen mit anderen in Kontakt zu treten und anderen entsprechend positive Gefühle zu zeigen
11 Wertschätzung, Zuneigung und Hilfe annehmen
Bedürfnis und Fähigkeit, den positiven Gefühlen und Hilfsangeboten, die andere einem entgegenbringen, zu vertrauen und sie anzunehmen
12 Sich selbst gegen Ausbeutung und Missbrauch schützen
Fähigkeit, (zum Beispiel narzisstisch, sexuell oder finanziell) missbräuchliche Beziehungsangebote zu erkennen und sich vor Beziehungen dieser Art zu schützen
13 Gute innere Bilder entwickeln
Fähigkeit, aus den positiven Erfahrungen mit bestimmten Menschen ein stabiles und positives inneres Bild dieser Menschen zu entwerfen, das auch in Abwesenheit dieser Menschen eine hilfreiche, zum Beispiel beruhigende und ermutigende Wirkung entfaltet
14 Dauerhafte Bindungen eingehen und aufrechterhalten
Bedürfnis und Fähigkeit, mit anderen Menschen dauerhafte Bindungen einzugehen, sich gegenseitig zu unterstützen und Gefühle von Fürsorge, Verantwortung und Dankbarkeit zu empfinden
15 Beziehungen schützen
Bereitschaft und Fähigkeit, auf die Bedürfnisse und Interessen anderer Menschen Rücksicht zu nehmen, Regeln zu beachten, Gefühle von Gerechtigkeit und Schuld zu empfinden 
16 Konflikte durchstehen und Ausgleich suchen
Fähigkeit, wenn nötig auch Konflikte und negative oder ambivalente Gefühle durchzustehen, verbunden mit der Bereitschaft, immer wieder Kompromisse und einen Ausgleich mit anderen zu suchen und zu finden sowie anderen ihre Verfehlungen zu vergeben
17 Beziehungen zu mehreren Menschen und in Gruppen (variable Bindung)
Bedürfnis und Fähigkeit, intensive Beziehung nicht nur mit einem einzigen Menschen, sondern mit mehreren oder vielen Menschen und auch in Gemeinschaften einzugehen und mit verschiedenen Menschen unterschiedliche Interessen und Befriedigungsmöglichkeiten zu teilen
18 Selbstständig sein, Bindung lösen
Fähigkeit, phasenweise auch alleine sein zu können, seinen eigenen Weg zu gehen und Beziehungen zu beenden, wenn sie einem schaden oder die eigene Weiterentwicklung behindern
19 Angemessen trauern
Fähigkeit, nach Trennungen und Verlust von wichtigen Menschen angemessen zu trauern, seine Trauer mit anderen zu teilen, neue Lebensperspektiven zu entwickeln und sich auf neue Beziehungen einzulassen

D. Kommunikation

20 Emotionale Kommunikation
Fähigkeit, für die eigenen Emotionen und Impulse Worte oder eine andere, zum Beispiel künstlerische Ausdrucksmöglichkeit zu finden, statt sie auszuagieren
21 Nutzung und Kanalisierung der eigenen Aggression
Fähigkeit, das eigene aggressive Potenzial sozial verträglich zu nutzen, um sich gegen unangemessene Forderungen oder Zumutungen anderer zur Wehr zu setzen, den eigenen Interessen Gehör zu verschaffen und sie durchzusetzen
22 Grundrespekt trotz negativer Affekte
Fähigkeit und Bereitschaft, negative Emotionen (zum Beispiel Enttäuschung, Ärger, Wut, Verachtung) so auszudrücken, dass immer ein Grundrespekt erkennbar ist und andere nicht verletzt werden

Ich hoffe, dass ich mit dieser Liste von Ich-Funktionen deutlich machen kann, was in der psychotherapeutischen Praxis und auch im Alltag unter dem Konstrukt des Ich und unter dem Begriff des Strukturniveaus zu verstehen ist. Spätestens nach den ersten drei bis vier (probatorischen) Sitzungen mit einem Patienten sollte meines Erachtens jeder Therapeut eine vorläufige Einschätzung vornehmen und in der Liste ankreuzen können, ob er in der Begegnung mit diesem Patienten die Qualität jeder einzelnen der 22 aufgelisteten Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeit als gut, mäßig oder gering erlebt hat. Damit ergibt sich für jeden Patienten ein individuelles Profil von Stärken und Schwächen, Ressourcen und Defiziten. Aus dem Mittelwert der Qualität der einzelnen Items kann das Gesamtmaß (zum Beispiel gutes, mäßiges oder geringes Ich-Funktionen-Niveau) bestimmt werden.

Fassen wir zusammen:

Aus psychodynamischer Sicht ist „das Selbst“ die innere Repräsentanz, das Modell oder das Bild, das ein Mensch von sich selbst hat.
Phänomenal zeichnet sich ein gesundes Selbst durch das subjektive Erleben aus, eine Ganzheit, ein autonomes, beständiges und kohärentes Zentrum von Vitalität und Initiative und der Mittelpunkt des unmittelbaren Empfangens von Eindrücken zu sein.
Das Ich ist hingegen als die Summe aller dem Menschen vorbehaltenen mentalen Funktionen zu verstehen, die seine möglichst gute Adaptation an seine soziale Umgebung gewährleisten und die Kohärenz seines Selbst sicherstellen.
Die Abwehr ist nur eine von vielen Aufgaben des Ich.
Die hauptsächliche Funktion des Ich besteht darin, die Anforderungen des Alltags zu bewältigen.
Die adaptative Qualität der Ich-Funktionen eines Menschen hängt außer von genetischen Faktoren davon ab, wie gut die Eltern über Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten verfügten und als Vorbilder präsent waren.
Angelehnt an die OPD-2 empfehle ich, im Rahmen der psychodynamischen Routinediagnostik bei jedem Patienten ein Ich-Funktionen-Profil zu erstellen und die Qualität von 22 Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten einzuschätzen
Das Strukturniveau oder Ich-Funktionen-Niveau ist das Gesamtmaß für die Qualität aller erwähnten Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten.

Praktische Konsequenzen:

Die Aneignung des Konzept des Strukturniveaus war das Wichtigste, was ich als Psychotherapeut im letzten Jahrzehnt bewusst dazugelernt habe. Der zuvor für mich eher abstrakte und vieldeutige Begriff des Ich hat für mich hierdurch an Kontur gewonnen. Das Strukturniveau beziehungsweise das Ich-Funktionen-Profil gibt mir als Psychotherapeut klare diagnostische Kriterien an die Hand, die eine zuverlässige Einschätzung der Qualität der Ich-Leistungen meiner Patienten ermöglicht. Die Kriterien sind – wenigstens vom Anspruch der OPD her – „interrater-reliabel“, das heißt, unterschiedliche Untersucher („rater“) sollten mit ausreichender Wahrscheinlichkeit zu ähnlichen Einschätzungen gelangen. Therapeuten können sich damit besser als früher über das, was unter Ich-Funktionen zu verstehen ist, mit anderen Fachleuten verständigen. Die Bestimmung des Ich-Funktionen-Niveaus hat vor allem – zumindest für mich – wichtige therapeutische Konsequenzen. Da ich die strukturellen Fähigkeiten und Defizite meiner Patienten realistischer einschätzen sowie die biografischen Ursachen für diese Defizite besser verstehen kann, bin ich heute im Vergleich zu früher deutlich nachsichtiger, geduldiger und mitfühlender geworden, ohne dass mir diese annehmende Haltung übermäßige Anstrengung abverlangen würde.

Die Erstellung eines Profils von Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten mit der Bestimmung des Ich-Funktionen-Niveaus mag auf den ersten Blick als distanzierte und formalisierte Klassifizierung von Patienten erscheinen. In der Praxis trifft das Gegenteil zu: Ich kann das Ich-Funktionen-Niveau nämlich nur dann sinnvoll bestimmen, wenn ich zuvor mit meinen Patienten über mehrere Stunden in einen persönlichen Kontakt getreten bin und die Patienten intensiv erlebt habe. Ich glaube, dass ich heute wirksamer behandele als früher, weil ich in meinem therapeutischen Ehrgeiz nicht mehr so sehr die Einsichts-, Bewältigungs- und Veränderungsfähigkeiten meiner Patienten überschätze. Meine Therapieziele sind bescheidener geworden, Enttäuschungen seltener. Zugleich habe ich mit Hilfe der Ich-Funktionen-Diagnostik einen geschärfteren Bick für die Ressourcen des Patienten und die Ressourcen seines sozialen Umfelds gewonnen. Das Bewusstmachen sowie die Nutzung und Aktivierung dieser Ressourcen machen einen großen Teil meiner therapeutischen Bemühungen aus. Damit trage ich der Erkenntnis der Psychotherapieforschung Rechnung, dass die Qualität der Therapiebeziehung sowie die Ermutigung und Nutzung von Ressourcen zu den stärksten Wirkfaktoren in der Psychotherapie gehören. Die For¬schung legt uns nahe, unsere Hauptaufmerksamkeit den Selbstheilungskräf¬ten der Patienten und den sozialen Sys¬temen, in denen sie leben, zuzuwenden.

Seitdem ich gelernt habe, im Kontakt mit anderen Menschen das Ich-Funktionen-Niveau zu berücksichtigen, kann ich auch meine eigenen emotionalen Reaktionen besser steuern. Ich sehe es als meine Aufgabe an, auch meine eigenen strukturellen (die Ich-Funktionen betreffenden) Stärken und Defizite, so gut es geht, zu erkennen. Ich weiß inzwischen, bei welchen situativen Anforderungen ich mit bestimmten Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten schneller als andere an meine Grenzen stoße. Strukturelle Defizite haben – das habe ich oben schon betont – biografische Ursachen. Kein Mensch hat sich die Defizite seiner Ich-Funktionen ausgesucht. Die Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten entwickeln sich durch implizites Imitationslernen. Niemand konnte sich als Kind willentlich weigern, sie zu erwerben. Unsere strukturellen Defizite haben wir folglich nicht schuldhaft erworben. Sie sind vielmehr meinen Patienten, meinen Verwandten und Freunden, sie sind mir und einigen von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, schicksalhaft zugestoßen, weil die Lernbedingungen, die wir als Kinder vorfanden, in der einen oder anderen Hinsicht nicht immer optimal waren.

Wenn immer möglich mache ich die strukturellen Ressourcen und Defizite meiner Patienten in der Therapie zum Thema. Es ist gut, wenn wir uns unserer strukturellen Stärken und Schwachstellen bewusst sind. Eine meiner wichtigsten Botschaften an meine Patienten und auch an meine Leser ist: Keiner von uns ist schuld an seinem strukturellen Unvermögen, aber jeder von uns ist für seine Defizite verantwortlich. Und: Wir können unsere Ich-Funktionen in jedem Lebensalter trainieren. In meiner Funktion als Psychotherapeut versuche ich, vor allem jene Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten meiner Patienten zu verbessern, deren unzureichende Qualität ganz offensichtlich dazu führt, dass meine Patienten aktuell immer wieder an spezifischen Anforderungen ihres Lebens scheitern. So sollte beispielsweise ein Patient, der heiraten will, über ein Mindestmaß an Selbst- und Fremdwahrnehmung, Impuls- und Affektkontrolle sowie über die Fähigkeit zur emotionalen Kommunikation verfügen.

Für mich persönlich besteht der größte Vorzug der Berücksichtigung des Ich-Funktionen-Niveaus darin, dass ich mir eine Menge Aufregung, Ärger und Enttäuschung über andere Menschen, Patienten wie Nichtpatienten, sprichwörtlich „schenken“ kann. Ich reagiere zwar nach wie vor – gemäß meiner eigenen strukturellen Beschaffenheit – mitunter mit starker spontaner Emotionalität auf das Verhalten anderer Menschen, aber sobald ich an das Ich-Funktionen-Niveau der Beteiligten denke, mildert sich mein Affekt ab. Es wird mir dann immer wieder (und hoffentlich immer öfter) bewusst, dass andere – ebenso wie ich – in ihrer strukturellen Beschaffenheit gefangen sind und in der Regel nicht irgendwelche Dinge mit der Absicht tun, mir zu schaden oder meine Bedürfnisse zu missachten. Als Psychotherapeut kann ich auf diese Weise selbst bei sehr schwierigen und anstrengenden Patienten eine wohlwollende und emotional unterstützende Beziehung aufrechterhalten. Und ein bisschen mehr Nachsicht mit sich selbst kann mir – und Ihnen? – auch nicht schaden.

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